Einsame Menschen.

Eine lustige Weihnachtsgeschichte von Paul Bliß.
in: „Dresdner Nachrichten”, Abendausgabe, vom 22.12.1900


Es war am Weihnachtsheiligabend, und Herr Dr. Lastmann war wüthend, denn er hatte noch einen langen Zettel voll Besorgungen zu machen.

Dr. Lastmann war Junggeselle und als solcher haßte er natürlich die Feste im Allgemeinen, das Weihnachtsfest aber im Besonderen, weil es ein Fest für Familien und nicht für Junggesellen ist.

Nun stand er da und starrte den langen Zettel an, denn er wußte nicht, wo er mit dem Einkaufen beginnen sollte; zwar lag diese Aufzeichnung schon seit acht Tagen auf seinem Schreibtisch, aber wie gewöhnlich hatte er es bis zur letzten Minute aufgeschoben und deshalb war ihm jetzt die ganze Geschichte um so unbehaglicher.

Wüthend durchlas er die Reihen — da standen in bunter Folge: Ein Kaufladen, ein Paar Stiefel, eine Torte, ein Schaukelpferd, eine Kiste Cigarren, ein Sonnenschirm, Schlittschuhe, Tuschkasten, Zinnsoldaten, Rothwein, drei Stollen, Strümpfe, Bilderbuch und zuletzt gar noch eine Puppenstube.

Verärgert lachte er auf. Das waren nun Junggesellenfreuden: die ganze Verwandtschaft mußte er beschenken, denn Allen war er so halb und halb verpflichtet, bei Allen war er Gast gewesen und hatte Gefälligkeiten von ihnen genossen, und nun mußte er sich dafür revanchiren.

„Na!” — er that einen tiefen Seufzer, raffte sich auf und machte sich endlich auf den Weg; natürlich ging er in eins der modernen Waarenhäuser, in denen man sich ja von Kopf bis zur Zehe equipiren kann.

Aber ehe er dieses Waarenhaus erreichte, mußte er einen weiten Weg machen, denn er wohnte in einem stillen, vornehmen Viertel, und da mußte sich der geplagte verärgerte Mann durch endlose Straßen hindurch drängeln, denn alle Welt war auf den Beinen, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Su stieß und rannte er alle Augenblicke gegen einen mit Packeten beladenen Passanten an, wodurch natürlich seine Laune nicht besser wurde.

Endlich erreichte er aber dennoch sein Ziel. Doch, o weh! Als er nun das Waarenhaus betrat, drängte sich ihm eine solche Fluth von Menschen entgegen, daß er gleich wieder umkehren wollte; allein, er besann sich sofort eines besseren, indem er sich sagte, daß es am Heiligenabend sicher in anderen Geschäften ebenso voll wäre, und weil er doch nun 'mal kaufen mußte, drängte er sich also wüthend aber tapfer weiter durch.

Als er nun so hilflos dastand, bald seinen langen Zettel und bald die aufgestellten Waaren ansah, bemerkte er, wie eine Dame, die ihm bekannt vorkam, ihn beobschtete und sich über seine Hilflosigkeit zu amüsiren schien.

Natürlich ärgerte ihn das von neuem und so kehrte er sich wüthend um und ging weiter zu einer anderen Verkaufsabtheilung.

Als er sich so eine Stunde hatte schieben, drängen und stoßen lassen, waren endlich seine Käufe erledigt und nun steuerte er, beladen mit Packeten, und gefolgt von zwei ebenso beladenen Dienern, dem Ausgang zu, um eine Droschke zu ergattern. Da er aber die Augen immer auf die Thür gerichtet hatte, sah er nicht, was vor ihm geschah, und so rannte er plötzlich so heftig gegen Jemand an, daß einige seiner Packete fielen und deren Inhalt total zerbrach.

Und siehe, wieder war es jene Dame, die ihn vorher schon geärgert hatte, — auch diesmal lächelte sie ihn wieder an, — und da er nicht um Entschuldigung bat, so that sie dies.

Er war so in Extase, daß er in der That nichts sagen konnte, — und als er wieder zu sich kam, war sie längst fort.

Nun fluchte er natürlich wieder, mußte aber dennoch die zerbrochenen Gegenstände noch einmal kaufen, sich noch einmal drängen, schieben und stoßen lassen; und als er dann endlich glücklich, fast zugedeckt von Packeten, in seinem Wagen saß, da war er wirklich halb krank vor Aufregung und Aerger. Und natürlich entlud sich nun sein Groll wieder auf das Weihnachtsfest.

*           *           *

Um sieben Uhr am Heiligenabend hatte er glücklich alle seine Geschenke an die richtigen Adressen gebracht, war ein halbes Dutzend Mal dafür umhalst und ebenso oft abgeküßt worden, doch den Feierlichkeiten hatte er sich, wie gewöhnlich, schnell entzogen; — nein, er wollte keinen ausgeschmückten, brennenden Weihnachtsbaum sehen und den Kinderjubel nicht hören! — Das war etwas für Familienväter, aber nicht für Junggesellen! — und deshalb hatte er bei allen Verwandten nur seine Geschenke pflichtschuldigst abgegeben; sowie aber die Feier der Bescherung begann, machte er sich aus dem Staube, um nicht sentimental zu werden.

Und nun war er all seine Gaben los und wieder frei und ledig, — ach, er athmete ordentlich und glücklich auf!

Es war ein Viertel nach sieben, und er lief schnell drauf los, um nach Hause in sein Zimmer zu kommen, denn es war bitter kalt draußen und ein scharfer Wind wehte den Schnee von den Dächern.

Aber als er endlich daheim sein Zimmer betrat, wurde er wiederum wüthend, — es war kalt da drinnen, bitterkalt! — Sofort ließ er das Mädchen kommen.

„Warum ist hier nicht nachgelegt worden! Es ist ja kalt wie ein Hundestall!” fuhr er das Mädchen an.

Und zitternd antwortete die Kleine: „Wir dachten eben, der Herr Doktor würden doch heute am Heiligenabend nicht zu Hause bleiben.”

„Dachten! — dachten — —! Wenn Weiber schon denken, giebt's allemal eine Dummheit! — Wo ist Frau Müller?”

„Die Madame ist fortgegangen, zur Bescherung natürlich! Wer bleibt denn heute auch allein zu Hause?”

Wüthend blickte er sie an, dann schrie er: „Es ist gut, Sie können gehen!”

Achselzuckend ging das Mädchen hinaus.

Er aber lief grollend umher. Seine Stimmung war verdorben. Was sollte er jetzt allein hier? Wenn er noch heizen ließe, würde eine Stunde vergehen, ehe es warm wäre, und inzwischen hätte er sich krank geärgert — nein! Lieber hinaus, ganz gleich wohin. Und so nahm er dann Mantel und Hut und lief wieder davon.

Als er auf die Straße trat, leuchtete ihm von drüben her ein helles, weißes Licht entgegen, — die Laterne einer kleinen Konditorei, der einzigen dieses stillen Stadtviertels.

„Na,” sagte er zu sich, „retten wir uns dahinein; wenigstens werde ich da drinnen heute Abend ungestört sein und ruhig lesen können!”

Und so ging er in ds kleine Kaffeehaus.

Er war auch wirklich ganz ungestört, denn er war der einzige Gast in dem Lokal, nur ein Verkaufsfräulein stand gähnend und schläfrig hinter dem Ladentisch und eine einzige kleine Gasflamme erleuchtete den hinteren Leseraum nur sehr spärlich.

Aber daran kehrte sich Dr. Lastmann nicht. Er zündete, ohne erst lange zu fragen, die anderen zwei Flammen auch noch an, bestellte sich einen starken Grog, brannte sich eine gute Cigarre an, und machte es sich dann so bequem, als es unter den obwaltenden Umständen eben möglich war.

Doch kaum saß er, da erst bemerkte er, daß er doch nicht der einzige Gast war, denn nebenan im „Damenzimmer”, das nur durch eine halbhohe Holzwand von dem Leseraum getrennt war, räusperte sich eben Jemand.

„Donnerwetter,” lächelte er, „da bin ich doch wirklich gespannt, was da drinnen für 'ne alte Tante sitzen wird!” — und so behutsam wie möglich ging er an die Holzwand, stieg auf einen Stuhl und sah ein ganz klein wenig hinüber in das „Damenzimmer”, — und siehe da, wieder war es die Dame, die ihn heute früh ausgelacht hatte!

Jetzt wurde er aber doch stutzig und begann nachzudenken, denn das Gesicht kam ihm doch gar zu bekannt vor, und während er nun so eifrig seine Gedanken zusammenzubringen suchte, kam er nach und nach zu der Einsicht, daߎer die Dame ja kannte: es war ein nicht mehr ganz junges Fräulein, eine Klavierlehrerin, mit der er früher einmal in einer bekannten Familie zusammen dinirt hatte, — gewiß, so war es! Jetzt sah er Alles ganz sonnenklar! — Donnerwetter! Diese Blamage! — Nicht 'mal entschuldigt hatte er sich heute früh! — Also gutmachen! Nachholen!

Und kurz entschlossen ging er nebenan zu dem Fräulein hinein, postirte sich vor ihren Tisch und begann: „Mein gnädiges Fräulein, der Zufall will, daß ich meine heute früh versäumte Entschuldigung nachholen kann, — ich bitte hiermit feierlichst um Verzeihung für den Schreck, den ich Ihnen heute Vormittag eingejagt habe!” Lächelnd dankte sie, lud zum Sitzen ein, und erwiderte: „Ich sah wohl, Herr Doktor, daß Sie mich nicht erkannten, aber ich muß übrigens mich auch entschuldigen bei Ihnen, — jawohl! — Denn ich glaube, ich habe Sie ausgelacht, nicht wahr?” Mit heiteren Augen sah sie ihn an.

Und er, ebenso heiter. „Gewiß haben Sie das! Und ich war wüthend darüber!”

„Mein Gott, Sie sagen auch zu komisch aus in all Ihrer Hilflosigkeit!” rief sie.

„Das glaube ich! — Ein Junggeselle mit einem ellenlangen Besorgungszettel, — Stoff für ein Witzblatt!” Auch er wurde heiter, angesteckt durch ihre Lachlust.

„Na, nun haben Sie es ja auch geschafft.”

„Gott sei Dank! Jetzt kann ich in Ruhe meine Heiligabend-Feier abhalten! — Aber wie kommt es, mein gnädiges Fräulein, daß auch Sie hier am heutigen Abend allein sind?”

„Ja, mir geht es wie Ihnen, Herr Doktor, ich habe auch keine Angehörigen, und bei fremden Menschen komme ich mir an einem Abend, wie dem heutigen, erst recht verlassen vor, — Weihnachten kann man eben wirklich feiern nur in der eigenen Familie!”

Er nickte und schwieg ein Weilchen.

Dann: „Wohnen Sie denn jetzt hier auch in unserem Viertel, gnädiges Fräulein?”

„Bereits seit dem ersten Oktober. Sie haben mich auch schon oft genug getroffen, aber eben nicht wiedererkannt.”

„Ja, entschuldigen Sie das, bitte! Sie wissen ja, die Vergeßlichkeit ist uns Gelehrten ja so oft angedichtet, daß wirklich Wahres daraus geworden ist.”

Sie lächelte wieder und nickte nur.

Dann er: „Also sind wir zwei einsame Menschen, die nun hier in diesem ebenso reizlosen wie kalten Kaffeehaus den Heiligenabend feiern sollen.”

„Ja, kalt ist es hier,” meinte sie, „das ist wahr!”

„Besonders hier drinnen! Kommen Sie nur mit nach nebenan, da habe ich alle drei Gasflammen angezündet, das heizt schon, — und dann trinken Sie mit mir einen derben Grog, — ja, das lasse ich mir nicht nehmen! Sie sind mein Gast! Ich will abbitten für heute früh! — Und dann sollen Sie 'mal sehen, wie schön warm Ihnen werden wird!”

So kam sie also mit ihm in's Lesezimmer, wo sie es sich in einer Ecke am Ofen recht nett und gemüthlich machten; und während sie nun so lustig zusammen plauderten und den dampfenden Grog schlürften, machte er mit einem Mal die Entdeckung, daß so'n Weihnachtsfest eigentlich doch eime recht nette Erfindung sei, wenn man es in so angenehmer und lustiger Gesellschaft verlebte.

Und während sie sich so köstlich unterhielten, drang plötzlich Kindergesang zu ihnen her — „Stille Nacht, heilige Nacht” u. s. w.

Da stand sie auf, schob die Gardine an der Glasthüre zurück und da sahen sie den brennenden Weihnachtsbaum des Konditors, der im hinteren Zimmer seiner Familie bescherte.

„Na, was wollen wir noch mehr!” meinte sie lachend, „da haben wir ja Alles, was zu einem richtigen Heiligenabend gehört!”

Und er, fast ausgelassen heiter surch den starken Grog: „Ja, nur die Geschenke für uns fehlen noch!”

„Ach, die denken wir uns!”

„Aber wozu denn! Es ist ja Alles da!” — Und kurz entschlossen stand er auf, ging nach vorn in den Konditorladen und kam gleich darauf zurück mit einem großen Marzipanherzen, das er ihr lachend überreichte: „Sie gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen mein Herz verehre!”

Sie erröthete ein wenig, nahm es aber an und dankte lächelnd. Dann sagte sie heiter: „Und was soll ich Ihnen nun schenken?”

Da sah er sie mit leuchtenden Augen an und erwiderte: „Ihre Freundschaft!”

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So wurden sie also Freunde, die beiden einsamen Menschen, die hier in dem versteckten Winkelchen der großen Stadt ihren Weihnachtsheiligenabend froh und heiter zusammen feierten. Und als sie sich dann um 9 Uhr trennten, da sagten sie sich mit heiter leuchtenden Augen; „Auf Wiedersehen!”

Und als dann eine halbe Stunde später Dr. Lastmann in sein kaltes Zimmer kam, wollte er erst wieder wüthend werden, — schnell aber tröstete er sich mit dem Gedanken: „Na, die längste Zeit warst Du ja ein Junggeselle, nun wird es anders werden!”

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